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Interviews
Einseitige Ernährungsrichtlinien in Deutschland: Ernährungswissenschaftlerin Anna-Lena Klapp im Interview
Kathleen Gerstenberg
Ausgewogene Ernährungsrichtlinien? Nicht in Deutschland. Eine von ProVeg unterstützte Studie hat erstmals 95 staatliche Ernährungsrichtlinien weltweit danach bewertet, wie vielseitig die empfohlene Auswahl pflanzlicher Lebensmittel ist.
Deutschland liegt im Ländervergleich auf Platz 50 – und erhielt eine unterdurchschnittliche Bewertung. Studienautorin Anna-Lena Klapp ist Ernährungswissenschaftlerin, Doktorandin der Agrarwissenschaften an der Universität Göttingen und Fachreferentin für Ernährung bei ProVeg. Im Interview erklärt sie, warum die Ernährungsrichtlinien hierzulande so schlecht abschneiden und was Deutschland von anderen Ländern lernen kann.
Anna-Lena, welche Bedeutung hat die Ernährungsrichtlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für die Bevölkerung?
Ernährungsrichtlinien haben vor allem indirekt Einfluss auf unsere Ernährung. Sie geben den Rahmen vor für ernährungspolitische Entscheidungen und Vorgaben. So beeinflussen sie zum Beispiel die Menüplanung in der Gemeinschaftsverpflegung von Schulen, Universitäten und Betriebskantinen. Für die Schulverpflegung ist die staatliche Ernährungsrichtlinie der DGE in mehreren deutschen Bundesländern sogar verbindlich. Damit entscheidet sie praktisch darüber, was gerade junge Menschen in Deutschland die Woche über zu Mittag essen.
Wie sieht es mit der Ernährungsbildung hierzulande aus?
Auch für die Aufklärung über gesunde Ernährung ist die Richtlinie entscheidend. Die meisten Ernährungsfachkräfte lernen in der Ausbildung oder im Studium die 10 Regeln der DGE. Diese beschreiben unter anderem tierische Produkte als unbedingt notwendig für eine gesunde Ernährung.1DGE (2023): 10 Regeln der DGE. Online unter: https://www.dge.de/ernaehrungspraxis/vollwertige-ernaehrung/10-regeln-der-dge/ [12.01.2023]
Kürzlich hat eine Studie der Krankenkasse AOK zudem große Lücken bei der Ernährungsbildung festgestellt: Viele Eltern in Deutschland halten eine klimafreundliche Ernährung, die tierische Produkte reduziert, für ungesund, so das Ergebnis.2AOK (2022): AOK-Familienstudie 2022. Online unter: https://www.aok.de/pk/familienstudie/ [12.01.2023] Dabei ist die Reduktion von Fleisch und Milchprodukten für unsere Gesundheit und für die Gesundheit des Planeten dringend notwendig.
„Staatliche Ernährungsrichtlinien beeinflussen maßgeblich, was wir essen, was wir über gesunde Ernährung wissen und welche Art von Ernährung wir unseren Kindern für den Rest ihres Lebens beibringen.“
Anna-Lena Klapp
Ernährungswissenschaftlerin
Deutschland landet auf Platz 50 im internationalen Vergleich. Warum?
Die deutsche Ernährungsrichtlinie teilt Lebensmittel in 7 Gruppen ein, darunter „Fleisch, Wurst, Fisch und Eier“ sowie „Milch und Milchprodukte“. Diese beiden Gruppen sollen den Bedarf an Proteinen, Eisen und Kalzium decken. Die Richtlinie nennt in beiden Gruppen aber keine adäquaten Alternativen, die den Bedarf auch pflanzlich decken könnten. Damit stellt die DGE Fleisch und Milch sogar in den Vordergrund. Dabei ist es aus gesundheitlicher wie auch aus nachhaltiger Sicht wichtig, den Konsum tierischer Lebensmittel zu senken.
Wie würden nach deiner Definition ausgewogene Ernährungsrichtlinien aussehen?
Ausgewogene Richtlinien fassen tierische Lebensmittel zum Beispiel mit pflanzlichen Lebensmitteln wie Hülsenfrüchten und Tofu in einer „Proteingruppe“ zusammen. Außerdem erklären sie, wie pflanzliche Lebensmittel am besten kombiniert werden sollten, um unseren Protein- und Eisenbedarf zu decken. Diese Nährstoffe werden oft vorrangig mit tierischen Lebensmitteln in Verbindung gebracht. Deshalb braucht es dringend Aufklärung und ausgewogene Informationen seitens der verantwortlichen Institutionen.
Die USA, Großbritannien und die Niederlande haben noch einen anderen Weg gewählt: Sie führen in der Milchgruppe mit Kalzium angereicherte Sojamilch als adäquate Alternative zu Kuhmilch auf. So lassen sich alternative Quellen für diese Nährstoffe leicht identifizieren – zum Beispiel wenn man ein Lebensmittel nicht mag, nicht verträgt oder aus ethischen oder ökologischen Gründen nicht zu essen bereit ist.
Wie steht die Ernährungsrichtlinie der DGE zu Alternativprodukten?
Die deutsche Richtlinie erwähnt pflanzliche Alternativen zu Milch, Milchprodukten und Fleisch mit keinem Wort. Der Ländervergleich zeigt: Das ist vor allem eine politische Entscheidung. Diese Entscheidung schränkt die Lebensmittelauswahl der Bürger:innen ein. Dabei können staatliche Richtlinien auch helfen, vorteilhafte Alternativen zu erkennen. Sie können die Menschen etwa darauf hinweisen, Produkte mit einem geringen Zucker-, Salz- und Fettgehalt zu bevorzugen. Das wird bei tierischen Produkten übrigens schon längst so gehandhabt.
Vegane Alternativen
Ob Fleisch, Käse oder Fisch: Vegane Alternativen gibt es mittlerweile für alle Tierprodukte und Lebensmittel mit tierischen Inhaltsstoffen. Die Auswahl ist riesig und lädt zum Probieren sowie Austoben in der Küche ein.
Der Fleisch- und Milchkonsum ist in Deutschland rückläufig – und rund die Hälfte der Bevölkerung bezeichnet sich als Flexitarier:innen. Wie passen diese Entwicklungen und die deutsche Ernährungsrichtlinie deiner Meinung nach zusammen?
Wir haben festgestellt, dass die Betonung tierischer Produkte in nationalen Ernährungsrichtlinien mit einer wirtschaftlich starken Fleischindustrie korreliert. Je größer der Anteil der Fleischindustrie am Bruttoinlandsprodukt eines Landes, desto eher empfiehlt dieses Land seinen Bürger:innen ausschließlich tierisch basierte Produkte zur Deckung bestimmter Nährstoffe und erwähnt weniger pflanzliche Optionen. Das trifft auch auf Deutschland zu.
Die Statistiken zum Fleisch- und Milchkonsum und die Studien zu den Ernährungsweisen der Bevölkerung zeigen: In den Köpfen der Menschen in Deutschland, aber auch in ihrem Verhalten ändert sich gerade einiges. Wir müssen uns deshalb bewusst werden, dass die Entwicklung von Ernährungsempfehlungen sowohl eine wissenschaftlich-empirische als auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe ist.
Andere Länder aktualisieren ihre Richtlinien daher in festgelegten Zyklen und binden die Zivilgesellschaft etwa über öffentliche Konsultationen ein. Der Überarbeitungsprozess der Ernährungsrichtlinie durch die DGE ist dagegen weder transparent noch partizipativ. Hier muss die Bundesregierung dringend handeln, um den Ansprüchen einer Demokratie gerecht zu werden.
Welche Maßnahmen müsste Deutschland konkret ergreifen, um zu den Gewinnern des Rankings aufzuschließen?
Da wäre zunächst die Überarbeitung der Lebensmittelgruppen: Fleisch und Milch sollten keine eigenen Gruppen ohne adäquate pflanzliche Alternativen bilden. Eine Einteilung, die sich an Nährstoffen orientiert, verdeutlicht, dass wir Protein auch aus Hülsenfrüchten wie Linsen, Soja oder Erbsen und Kalzium auch aus Mineralwasser erhalten können. Hier sind Kanada und Großbritannien Vorreiter.
Ein zweiter Schritt bestünde darin, auch pflanzliche Alternativen zu Milch, Milchprodukten und Fleisch in der Ernährungsrichtlinie zu berücksichtigen. Mit Kalzium angereicherte Sojamilch gilt in zahlreichen Ländern längst als adäquater Ersatz für Kuhmilch, etwa in den USA und in Großbritannien. Die Niederlande nennen außerdem pflanzliche Fleischalternativen und weisen zum Beispiel darauf hin, dass Produkte mit einem geringen Salzgehalt aus gesundheitlichen Gründen bevorzugt werden sollten.
Wie bewerten die Ernährungsrichtlinien anderer Länder eine vegan-vegetarische Ernährung?
Norwegen, Finnland, Schweden und die Niederlande betonen in ihren staatlichen Ernährungsrichtlinien die gesundheitlichen und ökologischen Vorteile pflanzenbasierter Ernährungsweisen, einschließlich veganer und vegetarischer Ernährung. Diese Länder stellen Empfehlungen für eine gut geplante vegetarische und vegane Ernährung bereit. Das trägt auch den ethischen, ökologischen, religiösen und ökonomischen Gründen für die tägliche Lebensmittelwahl der Menschen Rechnung. Deutschland wäre gut beraten, sich an diesen Ländern ein Beispiel zu nehmen und die ablehnende Haltung gegenüber veganer Ernährung zu überdenken.
Du hast die Studie auch auf der Weltklimakonferenz vorgestellt. Wie hat die Weltgemeinschaft darauf reagiert?
Es scheint, als käme unsere Studie genau zum richtigen Zeitpunkt. Der Weltklimarat IPCC verweist in seinem aktuellen Bericht zur Eindämmung des Klimawandels auf die wichtige Rolle staatlicher Ernährungsrichtlinien für das Ernährungssystem.3 Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) (2022): Climate Change 2022 – Mitigation of Climate Change. Online unter: https://report.ipcc.ch/ar6/wg3/IPCC_AR6_WGIII_Full_Report.pdf [12.01.2023] Gleichzeitig kritisiert er dieselben Punkte, die auch unsere Studie bemängelt. Das bestätigt unsere Arbeit und zeigt uns deutlich, wie wichtig sie ist.
Vielen Dank für das Interview, Anna-Lena.
* Beim Klicken des Links verlassen Sie die ProVeg-Website.
ProVeg gestaltet den ersten Ernährungspavillon auf der COP 27
Auf der Konferenz in Ägypten im November, COP 27, wurde dank der Initiative von ProVeg dem Zusammenhang zwischen unserem Ernährungssystem und der Klimakrise erstmals ein eigener Pavillon gewidmet.
Quellen[+]
↑1 | DGE (2023): 10 Regeln der DGE. Online unter: https://www.dge.de/ernaehrungspraxis/vollwertige-ernaehrung/10-regeln-der-dge/ [12.01.2023] |
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↑2 | AOK (2022): AOK-Familienstudie 2022. Online unter: https://www.aok.de/pk/familienstudie/ [12.01.2023] |
↑3 | Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) (2022): Climate Change 2022 – Mitigation of Climate Change. Online unter: https://report.ipcc.ch/ar6/wg3/IPCC_AR6_WGIII_Full_Report.pdf [12.01.2023] |
Letztes Update: 16.01.2023
Über die Autorin
Kathleen Gerstenberg
Content-Managerin
Unsere Autorin interessiert sich für gesunde Ernährung. Seit 2018 ist sie bei ProVeg, liebt Wortneuschöpfungen und jongliert als Content-Managerin mit Sprache, um noch mehr Menschen für eine pflanzliche Lebensweise zu begeistern.