Interviews

Über Lebensmittelverschwendung, Nachhaltigkeit und das Leben ohne Geld – Raphael Fellmer im Interview

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Bildquelle: Sirplus

Mit dem Ziel, Lebensmittelverschwendung zu beenden, gründeten Raphael Fellmer und Martin Scholl 2017 das Impact-Start-up Sirplus. Seitdem rettete das Team über 3 Millionen Kilogramm Lebensmittel, die im Onlineshop oder in den Berliner „Rettermärkten“ erhältlich sind. Im Interview spricht Raphael über seine Beweggründe und zeigt, wie wir alle einen Beitrag zu einer nachhaltigeren Welt leisten können.

Raphael, was ist das Geschäftsmodell von Sirplus?

Wir retten überschüssige Lebensmittel bei Produzierenden und dem Großhandel und bringen sie zurück in den Kreislauf, indem wir sie in unserem Onlineshop und unseren Berliner Rettermärkten zum Verkauf anbieten. Diese überschüssigen Lebensmittel entsprechen nicht der Norm, haben kleine Makel oder sind nah am oder über dem Mindesthaltbarkeitsdatum. Vollkommen lecker und bestens genießbar sind sie trotzdem, das prüft unser Qualitätsmanagement regelmäßig detailliert. Wir haben schon über 800 Partnerinnen und Partner gewonnen, denen wir Produkte abkaufen, die die Tafeln (gemeinnützige Hilfsorganisationen) nicht abholen. Tafel first, das ist unsere Grundregel!

Mit unserem Alltagsgeschäft und unserer Bildungsarbeit versuchen wir, das Thema Lebensmittelverschwendung zum Mainstream zu machen und Verbraucherinnen und Verbraucher zum Umdenken anzuregen. Ohne unsere Kundschaft würde die Lebensmittelrettung nicht funktionieren, nur gemeinsam mit ihnen und unseren Partnerinnen und Partnern leisten wir einen wichtigen Beitrag zu nachhaltigem Konsum und Klimaschutz.

Woran liegt es, dass in einigen Haushalten noch immer so viele Lebensmittel verschwendet werden und was können wir dagegen tun?

Das hat zum einen mit den Einkaufsgewohnheiten und dem Kenntnisstand einiger Verbrauchenden zu tun. Zahlreiche Menschen kaufen zu viel oder ohne Planung ein, wodurch dann Überschüsse und dementsprechend Abfälle entstehen – entweder, weil Lebensmittel schlecht werden, oder zu üppig gekocht wird. Außerdem besteht noch Unkenntnis über den Unterschied zwischen dem Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD), das nur eine Garantie der Herstellenden darstellt, und dem Verbrauchsdatum (VD), das bei schnell verderblichen Produkten die tatsächliche Haltbarkeit angibt. Die Tatsache, dass Produkte meist noch weit über das MHD genießbar sind, ist vielen noch unbekannt. Unser Leitspruch bei Sirplus ist: Sehen, riechen, schmecken, statt nur das MHD zu checken.

Andererseits liegt es natürlich auch in der Macht der Produzierenden, des Handels, der Supermärkte und vor allem der Politik, Maßnahmen zur Vermeidung von Lebensmittelverschwendung zu implementieren. Dieser Punkt kommt oft zu kurz!

2010 bist du aufgebrochen, um von den Niederlanden nach Mexiko zu trampen. Das Experiment endete in einem 5-jährigen „Geldstreik“. Welche Erkenntnisse hast du aus deinem nachhaltigen Projekt „Leben ohne Geld“ gewonnen?

Erst einmal: Alles ist möglich. Die eigenen Träume zu leben, ist wichtig, genauso aber auch der Austausch darüber mit anderen. Den Glauben an selbst gesteckte Ziele und die Begeisterung dafür zu teilen, sind der erste Schritt, um etwas Größeres zu bauen und gemeinsam darauf hinzuarbeiten. So erging es mir mit „foodsharing“, das wir zusammen mit 100.000 ehrenamtlichen Lebensmittelrettenden zur größten europäischen Freiwilligenbewegung aufgebaut haben – ganz ohne Geld!

Abseits davon habe ich auch viel über die Welt und meine Mitmenschen gelernt: Wenn wir das Gute im Menschen sehen, werden wir diesen Teil stärken. Die Welt da draußen, all das Unbekannte, ist wesentlich besser, sicherer und schöner, als ich es mir je hätte vorstellen können. Bedingungslos zu geben und zu nehmen, vom Herzen aus zu leben und zu handeln, ist für mich das Allerwichtigste geworden. Ich halte mich von Geldsorgen und Ängsten fern und möchte meine Entscheidungen und mein Wirken nicht von finanziellen Aspekten abhängig machen, sondern das tun, womit ich die größtmögliche Wirkung erziele.

Was hast du vor Sirplus gemacht?

Wie bereits angeschnitten, bin ich 1,5 Jahre lang ohne Geld von Holland quer durch Europa und Afrika über Brasilien bis nach Texas getrampt – und das per Anhalter in über 500 verschiedenen Fahrzeugen, auch Booten. Die Erfahrungen meines darauffolgenden „Geldstreiks“ habe ich in meinem Buch „Glücklich ohne Geld!“ festgehalten. Meine Leidenschaft für Lebensmittelrettung hat hier schon eine große Rolle gespielt. Auf den Aufbau von „foodsharing“ folgten dann Vorträge und Medienauftritte, unter anderem bei Markus Lanz, stern TV und Galileo. In dieser Zeit ging es mir vor allem darum, Menschen im In- und Ausland für die Themen Nachhaltigkeit und Klimawandel zu sensibilisieren. Schließlich müssen wir jetzt handeln, enkeltauglicher leben und unsere Ernährung umstellen, um die Klima- beziehungsweise Menschheitskrise aufzuhalten. Zusammengenommen mit meinem Einsatz gegen Lebensmittelverschwendung entstand irgendwann der tiefe Wunsch, meinen Impact auszuweiten: Martin und ich gründeten Sirplus. Meine wunderbaren Kinder haben ebenfalls zu dieser Entwicklung beigetragen.

Du selbst lebst seit 2010 vegan. Warum?

Schon in der Schule habe ich mich vegetarisch ernährt. Der endgültige Umschwung zur veganen Ernährung erfolgte dann 2010 auf meiner Weltreise, genau am 1. November, dem Weltvegantag. Zuerst lag mein Fokus auf der Auswirkung meiner Ernährungsweise auf die Umwelt. Dazu gehört zum Beispiel, dass auf das globale Ernährungssystem bis zu einem Drittel aller Treibhausgase zurückgehen. Die Tierhaltung trägt hiervon etwa die Hälfte bei. Etwa 80 % der weltweit landwirtschaftlich genutzten Fläche werden allein für die Tierindustrie genutzt. Durch den hohen Bedarf an Wasser und Pestiziden hat unser Ökosystem großen Schaden genommen.

Auch das Tierleid berührt mich sehr. Ich lebe so und behandle andere Lebewesen so, wie ich auch behandelt werden möchte: mit Respekt und Wertschätzung. Gerade in Bezug auf mein Herzensthema Lebensmittelrettung sollte erwähnt werden, dass mit einer pflanzlichen Ernährung weltweit alle Menschen satt würden.

5 Pros

Viele der dringendsten Probleme auf der Welt haben eine gemeinsame Ursache: unsere Lebensmittelauswahl. ProVeg hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie wir diese Probleme durch unsere Ernährung lösen können.

Bei der Erzeugung tierischer Produkte geht ein erheblicher Anteil an Lebensmitteln verloren. Damit trägt die Massentierhaltung beachtlich zur Lebensmittelverschwendung bei. Wie kommt es, dass darüber nur wenig aufgeklärt wird?

Das liegt meiner Meinung nach daran, dass Menschen allgemein Angst vor Veränderung haben. Teilweise werden diese Wahrheiten vermutlich auch absichtlich klein gehalten. Würden mehr Menschen Bescheid wissen, wäre die Transformation sicher größer und die Esskultur würde sich noch schneller in Richtung Veganismus verschieben. Wichtig finde ich die unaufhaltsame Erkenntnis, dass wir nicht nur um unseretwillen etwas ändern müssen, sondern für den gesamten Planeten, von dem wir abhängig sind.

Insgesamt gehen 90 % der Proteine auf dem Weg vom Futtertrog bis zum Fleisch auf unserem Teller verloren. Trotzdem bin ich positiv gestimmt. Wir leben gerade in der größten Transformationsphase der Menschheitsgeschichte. Auch wenn es so aussieht, als ob wir mit 180 km/h auf einen Abgrund zusteuern, bin ich davon überzeugt, dass wir das Lenkrad herumreißen werden. Als ich 1983 geboren wurde, gab es nur ein paar Hunderttausend vegan-vegetarisch lebende Menschen in Deutschland. Mittlerweile sind es Millionen! Das sind zwar immer noch zu wenig, aber das zeigt, wie viele Menschen gewillt sind, freiwillig ihre Ernährung umzustellen und ihren Impact damit zu erhöhen. Zudem reduzieren immer mehr Menschen ihren Konsum an tierischen Produkten.

Wie sollte die Zukunft unseres Ernährungssystems aussehen?

Ich finde es wichtig, von klein auf anzusetzen. Schon in der Schule braucht es das Fach Lebensmittelwertschätzung. Kindern sollte früh klar werden, dass Lebensmittel wortwörtlich Mittel zum Leben sind und dass sie deren Anbau, Ernte und Zubereitung lernen. Außerdem muss pflanzliche Ernährung in der breiten Bevölkerung etabliert werden. Das würde unser aller Gesundheit, den Tieren und der Biodiversität zugutekommen. Nicht zuletzt könnten so endlich alle Menschen satt werden! Um die Problematik der Lebensmittelverschwendung anzugehen, bedarf es einer großen und andauernden Aufklärungskampagne von Supermärkten, Herstellenden und Politik. Themen wie das MHD und ein nachhaltiger Umgang mit Lebensmitteln müssen allen Privathaushalten in Deutschland nähergebracht werden, da dort die Hälfte der Lebensmittelverschwendung stattfindet. Wir von Sirplus haben uns das mit unserer Bildungsarbeit bereits zur Aufgabe gemacht, aber davon braucht es mehr, auch von anderen Akteurinnen und Akteuren.

Vielen Dank, Raphael Fellmer, für das Interview.

Weitere Informationen zu Sirplus sind hier zu finden.

Letztes Update: 14.05.2021

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